Chistoph Wulf charakterisiert in seiner 2020 bei Beltz Juventa erschienenen Monografie Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän die anthropologische Forschung im Anthropozän wie folgt:
»Das Staunen (gr. thaumazein), das radikale Fragen und die philosophische Kritik und Selbstkritik hinsichtlich der von uns geschaffenen Bedingungen spielen eine wichtige Rolle. Diese Bedingungen und Formen des Philosophierens lassen sich als Methode nur unzureichend beschreiben. Sie entziehen sich der Formalisierung und entfalten ihre Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit Phänomenen, Ereignissen, Handlungen und Problemen […]. Je nach Kontext führen diese Formen der Reflexion zu unterschiedlichen Einsichten und Erkenntnissen […]. Anthropologische Forschung hält die Frage nach dem Menschen im Anthropozän grundsätzlich offen und trägt zur Einsicht bei, dass es unmöglich ist, einen Begriff vom Menschen begrifflich zu entwickeln.«
Die von Wulf charakterisierte Zurückhaltung rechnet mit der Gewissheit der Ungewissheit, oder, wie Siri Hustvedt es in ihrer 2018 bei Rowohlt erschienenen Monografie betitelt, mit der Illusion der Gewissheit. Sie ist eine zarte Form des Zweifelns, besser: der Höflichkeit, mit der grundlegende Fragen des Menschseins in ihrer Vielschichtigkeit angenommen, in ihrem Sosein bewahrt und vor einfachen, universellen Deutungen geschützt werden.
In der Übersetzung von Bettina Seifried führt Hustvedt aus:
»Der Zweifel, den ich meine, setzt lange bevor er sich zu einem klaren Gedanken formen kann, ein. Er beginnt als leises Gefühl der Unzufriedenheit, ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, eine noch gestaltlose Ahnung, die schwebend und gespannt zugleich, nach Ausdruck strebt, um sich schließlich als Frage in einer Sprache zu artikulieren, die ihr Raum bietet. Der Zweifel ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz, er ist ihre notwendige Voraussetzung. Keine Idee, kein Kunstwerk entstünde ohne ihn, und auch wenn er manchmal unbequem ist, bleibt er ein spannender Begleiter. Und es ist der wohlformulierte Zweifel, der immer wieder des Weges kommt, um die Illusion der Gewissheit ins Wanken zu bringen.« (S. 384)
An entsprechender Stelle heißt es im Original, das 2016 im Essayband A Woman Looking at Men Looking at Women erschienen ist:
»The kind of doubt I am thinking of begins before it can be properly articulated as a thought. It begins as a vague sense of dissatisfaction, a feeling that something is wrong, an as-yet-unformed hunch, at once suspended and suspenseful, which stretches toward the words that will turn it into a proper question framed in a language that can accommodate it. Doubt is not only a virtue in intelligence; it is a necessity. Not a single idea or work of art could be generated without it, and although it is often uncomfortable, it is also existing. And it is the well-articulated doubt, after all, that is forever coming along to topple the delusion of certainty.« (S. 339)