Condito humana
Seit 2009 finden die Kasseler Jugendsymposien zweimal jährlich statt. Oberstufenschüler*innen und Studierende können sich für die Teilnahme an der Zukunftswerkstatt im Bund der Waldorfschulen bewerben. Die Dialoge zu Themen wie Grenze, Licht oder Vernunft fasst die Frage nach der Conditio humana zusammen.
Sie stand vom 9. bis 12. Juni 2021 im Mittelpunkt eines großen Jugendsymposions in der documenta-Halle. Dort wurde die Frage aufgeworfen, was der Mensch nach Maßgabe seiner Weltverbundenheit werden kann.
Entsprechend waren bei diesem Jugendsymposion neben den Kursleiter*innen auch Lehrende, die weltweit den Oberstufenunterricht und die Lehrerbildung an Waldorfschulen verantworten, zusammen mit ihrem akademischen Umfeld eingeladen. Sie haben eine hundertjährige Unterrichtstradition im Blick auf die Conditio humana befragt.
Wie ist es, ein Mensch zu sein?
Die Frage, wie es ist und was es heißt, ein Mensch zu sein, können wir uns nur stellen, weil wir fähig sind, uns von außen zu sehen. Es ist uns möglich, abständig auf uns selbst zu blicken. Wir empfinden uns nicht nur direkt als jemand, sondern wir bemerken zugleich, wie diese/dieser Jemand sich gibt und darstellt.
Mit der Empfindung, direkt und unmittelbar jemand zu sein, fühlen wir uns selbst in uns zuhause. Wir sind einfach leiblich unmittelbar da. Das bildet den Ausgangspunkt unseres Erlebens. Gelingt es uns, Begegnungen mit anderen Menschen, Landschaften oder Städten intensiv zu erleben, so klingt dieser leibliche Ausgangspunkt wie mit. Unser leibliches Dasein erfahren wir, so Thomas Fuchs, als Mit-Sein mit der Welt. Und durch den Leib verwandeln wir uns, wie Hartmut Rosa es ausdrückt, der Welt an.
Blicken wir von außen auf uns, so stellen wir unsere Erlebnisse in einen neuen Bezug. Wir fragen, was sie bedeuten. Uns wird deutlich, dass wir nicht nur erleben, sondern auch Bedeutung verleihen können. Wir werden zu jemand, die/der Sinn stiftet.
Wie können leiblich-unmittelbares Erleben und der Perspektivenwechsel, welchen wir vollziehen, wenn wir Sinn und Bedeutung stiften, zusammenklingen? Diese zentrale Frage unseres Menschseins verfolgt uns ein Leben lang. Siri Hustvedt weitet diese Frage, indem sie das leiblich-unmittelbare Erleben zusammenschaut mit dem, was uns direkt und unmittelbar begegnet.
So schreiben wir nicht nur unser Leben, wir werden zugleich auch von ihm geschrieben. Können wir auch diese beiden Aspekte zusammenklingen lassen? Wie kann unser Selbstverhältnis in harmonischer Weise zugleich ein Weltverhältnis sein?
Schon vor der Corona-Pandemie war der Perspektivenwechsel, welchen wir Menschen vollziehen, wenn wir unser unmittelbares Erleben anschauen und Bedeutung stiften, für Bildungsprozesse zentral. – Durch lange Fernunterrichtsphasen hat die Schule in einem ganz neuen Maße die Aufgabe bekommen, dass sich in ihr das eigene Selbstverhältnis zu einem verständigen und dialogischen Weltverhältnis entwickeln kann.
Diese Frage ist von Siri Hustvedt, Hartmut Rosa und Thomas Fuchs ausgesprochen gründlich und weitblickend bearbeitet worden. Nicht zuletzt zeigt ihre prominente Stellung im kulturellen und wissenschaftlichen Leben, wie sie den Puls der Zeit treffen.
Das Kasseler Jugendsymposion nahm hundert Jahre Oberstufenunterricht an Waldorfschulen zum Anlass, mit einem großen Symposion zur Conditio humana, bei dem zeitgleich von Peking bis New York Oberstufenschüler/innen online zugeschaltet waren, die genannten Fragen zu thematisieren. Es waren so viele Teilnehmer/innen wie möglich in Präsenz dabei, es kamen tausende online hinzu. Alle blickten neu auf sich mit der Frage, wie es ist und was es heißt, ein Mensch zu sein.